Von Steffen Nagel – Allgemeine Zeitung vom 17.07.18
SIEFERSHEIM – Ein paar Blätter Papier sind es, die Ruth Wagners Leben für immer verändern. Noch heute, mit 80 Jahren, versagt ihr die Stimme, wenn sie von damals erzählt. Von ihrer Kindheit. Vom Vater, dem unbeugsamen Sozialdemokraten, der sein SPD-Parteibuch mit Stolz trug. Der es nicht abgeben wollte, selbst als die Nazis ihn dazu drängten. Und dafür an die Front nach Russland geschickt wurde, wo er den Tod fand. Die Treue zur SPD ist es gewesen, die Ruth Wagners Vater das Leben gekostet hat.
Viele Jahrzehnte später sitzt seine Tochter gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten Karl Wiegand am Esszimmertisch ihres Hauses in Siefersheim. Während im Hintergrund ein Schlagerhit nach dem anderen aus dem Radio dringt, erzählen beide aus ihrem ereignisreichen Leben. Sie von 40 Jahren in der SPD, er von 60 – ein gemeinsames Jahrhundert, für das beide jüngst von ihrer Partei mit Urkunden bedacht worden sind. Es ist eine Geschichte über Loyalität, Streitbarkeit und Engagement.
„Angeboren und anerzogen“, nennt der 82-jährige Karl Wiegand seine politische Neigung. Eine Neigung, die ihn schon in jungen Jahren mit Ruth Wagner zusammenführen sollte. Beide stammen aus Nordhessen, er aus Rohrbach, sie aus dem Nachbardorf Friedlos. Man kannte sich, auch der gemeinsamen politischen Ansichten wegen, aus der Bekanntschaft erwuchs rasch eine enge Freundschaft.
Gemeinsam protestierten Wiegand und Wagner Anfang der 80er gegen ein geplantes Atomkraftwerk in Mecklar, hielten Transparente hoch, blockierten die Straße. „Wir haben demonstriert, aber wie!“, erinnert sich Ruth Wagner lächelnd. Der Widerstand zeigte Wirkung, die Pläne für das Werk wurden ad acta gelegt. „Da bin ich so richtig eingestiegen“, sagt die 80-Jährige, „denn nun wusste ich, wo ich hingehöre.“ Der gelernte Industriekaufmann Wiegand war schon früher politisch engagiert, kam über die sozialistische Jugend Deutschlands, die sogenannte Falkenbewegung, zu den Jungsozialisten. Und riskierte für die manchmal Kopf und Kragen, wenn er in „kohlrabenschwarzen Gemeinden“ Juso-Plakate klebte. „Da sind schon mal die Landwirte mit der Mistgabel hinter uns hergerannt.“
Zunächst Kreisvorsitzender, später Bezirksvorstand, ging Wiegand seinen Weg, der ihn bis ins Landratsamt und zum Ortsbürgermeisterposten führte. Auch Ruth Wagner gestaltete Politik aktiv mit, in ihrer Heimatgemeinde stieg sie bis zur Ortsvorsteherin auf.
„Ich war keiner, der sich weggeduckt hat“, sagt Karl Wiegand heute stolz. Sein Lieblingsbeispiel: die hessische Gebietsreform von 1972. Weil die nicht so verlief, wie er sich das gewünscht hatte, scheute er auch vor der Auseinandersetzung mit Parteigenossen nicht zurück. Der hoffnungsfrohen Polit-Konkurrenz, die Abwerbeversuche startete, sagt er: „ Ich mag bei dem Thema eine andere Meinung haben, aber meine Gesinnung ändert sich nicht.“
Und auch heute, zu Zeiten, in denen die SPD ums politische Überleben kämpft, halten Wiegand und Wagner ihrer Partei die Treue. Auch wenn die Situation aktuell eine Katastrophe sei, wie der 82-Jährige einräumt. Das hänge vor allem mit der Groko zusammen und mit einer Kanzlerin, die sich Dinge, die die SPD angestoßen hat, politisch zu eigen mache. „Das Problem ist, dass unsere Leute darauf nicht reagieren“, klagt Wiegand, „die müssten auf den Tisch hauen.“ Und Martin Schulz? Der sei ein armer Kerl gewesen, finden beide. Zu nachgiebig.
Politisch nicht immer einer Meinung
Angst um die Zukunft ihrer SPD haben die beiden Siefersheimer allerdings nicht wirklich. „Die Hoffnung stirbt zuletzt“, lautet Ruth Wagners Parole. Und Karl Wiegand ist überzeugt, dass die Sozialdemokratie spätestens dann ihren Wiederaufstieg feiern werde, wenn es den Deutschen mal wieder ein bisschen schlechter geht.
Wer glaubt, dass es bei den beiden, die sich vor einigen Jahren nach dem Tod ihrer Ehepartner für den gemeinsamen Lebensweg entschieden haben, politisch immer nur harmonisch zugeht, der irrt. „Wir sind nicht immer einer Meinung“, sagt Ruth Wagner, da werde mitunter auch mal heiß diskutiert. Etwa beim Thema Flüchtlingskrise. Während sie eher den humanitären Ansatz vertritt, steht Karl Wiegand für eine etwas härtere Linie.
In ihrer Wahlheimat Siefersheim – im Alter suchte Ruth Wagner die Nähe zu Sohn Udo – engagieren sich beide auch heute noch, interessieren sich für das politische Geschehen, sagen ihre Meinung.
Ein gemeinsames „rotes“ Jahrhundert mag hinter ihnen liegen, doch Feuer und Flamme sind Ruth Wagner und Karl Wiegand für ihre Sozialdemokratie noch wie am ersten Tag.
Artikel in der Online-Ausgabe: www.allgemeine-zeitung.de/lokales/alzey/vg-woellstein/siefersheim/100-jahre-sozialdemokratie-karl-wiegand-und-ruth-wagner-aus-siefersheim-blicken-auf-ihre-gemeinsame-spd-vergangenheit-zurueck_18925275.htm